News Herbst 2020

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Übergänge und Veränderungen gehören zu unserem Leben. Doch wie bewältigen wir sie? Von Albert Einstein ist der Ausspruch bekannt: „We cannot solve our problems with the same thinking we created them.” Das Paar wird zur Familie – mit all seinen Erfahrungen, mit seiner Biografie, mit der einzelnen und der gemeinsamen Vergangenheit. Es braucht aber auch neue Gedanken, um die Herausforderung der Familienwerdung bewältigen zu können. Übergänge beschreiben Schnittstellen, einen Wandlungsprozess, einen biografischen Einschnitt, und bewirken einen Statuswechsel, das Erlernen neuer Rollen und eine veränderte Selbstsicht und Lebenssituation. Veränderungen bringen Neuanfänge und bieten damit Chancen, welche allerdings zuerst erkannt und dann angenommen werden müssen. Oft behindert anfangs ein Phänomen des Widerstandes, genannt „Resistance of change“, die Familienwerdung. Es beschreibt die Ambivalenz, Veränderung einerseits anzustreben, aber zugleich abzuwehren. In ihrem „Acht-Phasen-Modell“ beschreibt die Entwicklungspsychologin Gabriele Gloger-Tippelt den Übergang vom Paar zur Familie von der „Phase der Verunsicherung“ (bis zur 12. SSW), der Anpassungsphase (bis zur 20. SSW), über die Konkretisierungsphase (20. bis 32. Woche) bis letztendlich hin zur Gewöhnungsphase (ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres). Das Paar bewegt sich in diesen Phasen zwischen Normalität und Herausforderung und braucht wertschätzende, zugewandte, intuitive Begleitung durch professionelle Fachkräfte.

Eine Mutter schildert in der Beratung ihre Situation nach der Geburt so: Stillen war zuerst gut, dann wurde ich unsicher. „Ich führte eine genaue Liste. Die Stillberaterin sagte, ich solle ad libitum stillen und die Liste weggeben. Die Gewichtszunahme war gut, die Beraterin so positiv – danach stillte ich ab. Mein Mann hat mich beruhigt und auch beunruhigt …“ Was ist geschehen? Was war der Auslöser für diese ambivalenten Empfindungen?

Einflüsse von außen

Alle – die werdende Mutter, der werdende Vater, die werdende Familie – sind verschiedensten Einflussfaktoren ausgesetzt:

  • Die Herkunftsfamilien (Erfahre ich Zuspruch oder Ablehnung?)
  • Die Biografien der werdenden Mutter/des werdenden Vaters
  • Das soziale Umfeld • Die gesellschaftlichen Einflüsse (Elternrolle einst und heute)
  • Die eigene Arbeit (Entsteht bei mir ohne meine Arbeit Verunsicherung oder Erleichterung?)
  • Ansprüche an sich selbst (Erwarte ich Perfektion von mir?)
  • Das eigene Erleben (Habe ich langersehnten Kinderwunsch?)
  • Kulturelle Aspekte (Migration, Flüchtlingssituation)

Auch bisherige Bewältigungsstrategien in Krisen spielen eine Rolle.

Ausgehend vom biopsychosozialen Modell müssen wir bedenken, dass sowohl die physische, die psychische als auch die soziale Ebene Einfluss auf die Wahrnehmung von Situationen nimmt. In seinem Buch „Die Mutterschaftskonstellationen“ beschreibt Daniel Stern das Erleben der Mutter als zweigeteilt: Die Mutter hält ihr reales Baby im Arm und trägt ein Bild ihres Babys – das imaginäre Baby – in sich. Sie fühlt die Sehnsucht nach einem Bild, das sich im Moment noch nicht einstellt. Auch die Vielfalt an Beziehungen bzw. Rollen, welche jeder Mensch hat, darf nicht außer Acht gelassen werden. Wir, die Fachpersonen, sehen die Mutter und ihr Kind, die Mutter ist aber gleichzeitig auch Frau, Partnerin, Tochter, Kollegin, Freundin. Dieses ganze Beziehungsgefüge muss mitbedacht werden, wenn wir mit der Mutter arbeiten.

Was hilft?

Der Schlüssel zur erfolgreichen Begleitung der Familienwerdung ist eine bindungsfördernde Haltung, sie macht eine professionelle Unterstützung erst möglich. Ziel ist es, die Hilflosigkeit bei der Mutter, beim Vater zu reduzieren. Unsere Aufgabe ist es, einen sicheren Gesprächsrahmen in guter Umgebung und entspannter Atmosphäre herzustellen. Zuerst geht es darum, die Reaktionen, Verhaltensweisen, die geäußerten Gedanken und Emotionen anzuerkennen. Die Gefahr besteht darin, dass wir mit unseren Reaktionen zu rasch in die Korrektur der Gedanken der Mutter gehen, statt ihnen den notwendigen Raum zu geben. Besser ist es, mit unseren Antworten etwas abzuwarten, damit sie dann von der Frau besser wahrgenommen werden können. Das Zeigen von Mitgefühl, ein Mitschwingen mit Aussagen wie „Das kann ich gut verstehen“ schafft eine gute Gesprächsbasis. Auch auf die Wirkung der Spiegelneuronen dürfen wir nicht vergessen. Stehen wir während des Gesprächs unter Zeitdruck, weil auf der Station noch andere Arbeit wartet, kann das die Mutter spüren und die Beziehungsebene wird gestört. Denn eine der stärksten Interventionen ist „Halt geben“ und „Da sein“ – sie verlangt allerdings, dass wir uns ohne Ablenkung auf die Mutter, den Vater einlassen. Wichtig ist also auch, unser eigenes Verhalten, unser momentanes Befinden gut im Blick zu behalten.

Um eine Kontinuität in der Betreuung aufrechtzuerhalten, ist genaue Dokumentation und Übergabe notwendig. Zusammengefasst brauchen Frauen:

  • Halt, Entlastung („Wie hast du es dir früher immer vorgestellt?“)
  • Verständnis, Zeit, Psychoedukation (erklären, informieren, benennen)
  • Ressourcen anfragen („Was hat dir bisher in Krisen geholfen? Was waren bisher deine Kraftquellen?“)
  • Mitschwingen, überlegte verbale Unterstützung („Darf ich dir meine Überlegung mitteilen? Ich würde gerne etwas ausprobieren, darf ich?“)

Wir Fachpersonen, können also, wenn wir wissen, was Paare brauchen, dazu beitragen, dass unser Expert*innenwissen besser gehört und angenommen wird. Denn: „Alles Leben ist Begegnung.“ (Martin Buber)